Ich dachte, dass ich die Crème de la Crème der Orgelzunft recht gut kenne, also beispielsweise so weltbekannte Organisten wie Olivier Latry, Jean Guillou, Cameron Carpenter, Guy Bovet und andere, die ich oft mehrmals in Konzerten besuchte. Offenbar legte ich meinen Fokus zu sehr auf ausländische Künstler. Der Name Wolfgang Seifen war mir zwar sehr geläufig, doch versäumte ich es, mich mehr mit ihm und seinem Wirken zu beschäftigen. Das sollte sich schlagartig ändern, als er erstmals die Konzerthalle Bamberg beehrte.
Wolfgang Seifen ist seit Oktober 2000 Professor für Improvisation und Liturgisches Orgelspiel an der Universität der Künste in Berlin. Im Jahr 2004 wurde er zum Titularorganisten an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin berufen. Seine künstlerische Tätigkeit ist beeindruckend. Neben zahlreichen Kompositionen, wie z.B. der "Missa Solemnis" für Großes Orchester, Chor und Orgel "Tu es Petrus" zum 80. Geburtstag von Papst Benedikt XVI., die am 10. Oktober 2007 im Petersdom zu Rom erstaufgeführt wurde, macht er praktisch alles, was im klassischen Musikgeschäft möglich ist. Das sollte man sich am besten über seine Website zu Gemüte führen (Konzerttermine, Kompositionen, Bearbeitungen, CD-Aufnahmen, Text-Publikationen und weitere künstlerische Tätigkeiten).
Christian Schmitt (Foto rechts), oft prämierter Principal Organist der Bamberger Symphoniker, selbst ein Meister seiner Zunft mit Konzertauftritten weltweit, gelang jedenfalls mit dem Engagement von Professor Wolfgang Seifen ein wahrer Glücksgriff. Er zeigt immer wieder, welch gutes Händchen er bei der Auswahl seiner Protagonisten hat, seit er die Orgelreihe der Symphoniker betreut. So ging icham 5. Februar 2017 erwartungsvoll ins Konzert, um etwas für mich völlig Neues zu erleben, nämlich ein reines Improvisationskonzert.
In der Regel ist es so, dass einem Organisten einige Takte von oft bekannten Kompositionen vorgegeben werden, die dann ausgiebig nach allen Regeln der (Improvisations-)Kunst mit einfallsreicher Registrierung dargeboten werden. Meist setzt eine Improvisation den Schlusspunkt bei einem Konzert, wenn der Organist dieses Genre beherrscht. Bei Professor Seifen war alles völlig anders. Im Programmheft standen diese Einzelheiten:
Concerto im deutschen Barockstil - Bach
- Allegro
- Adagio
- Vivace
Symphonische Phantasie und Fuge im deutsch-romantischen Stil „in Memoriam Max Reger“
Nach der Pause gab es eine Uraufführung:
„Bamberger“ Sinfonie für große Orgel
- Allegro maestoso (Kaiserdom)
- Andante cantabile (Klein-Venedig)
- Scherzo (Regnitz)
- Adagio espressivo (Jakobsberg)
- Finale (Fränkisches Rom)
Im Interview vor dem Konzert erklärte Seifen, dass er sich auf Improvisationen nicht vorbereite, also keine Strukturen oder etwas Ähnliches im Kopf habe. Erst bei der ersten Tastenberührung nähme alles seinen Fortgang. Und er improvisiere dann auch im Stil alter Meister, weil er sich völlig in deren Musikstil hineinversetzen könne.
Ich konnte es kaum glauben, was sich emotional in mir und sicher auch bei den anwesenden Musikfreunden abspielte. Er präsentierte das gesamte Klangspektrum der Orgel phänomenal. Man glaubte, fast den Wind zu spüren, der aus den Orgelpfeifen entwich, von denen die Riegerorgel (neben 74 Registern) 5830 aufweist.
Mit meinen bescheidenen Möglichkeiten könnte ich dieses Konzert kaum angemessen beschreiben. Der Kritiker für den Fränkischen Tag, Rolf-Bernhard Essig, erlaubte mir, seine Kritik hier zu veröffentlichen. Vielen Dank!
Wolfgang Seifen malt mit der großen Konzertorgel ein expressionistisches Bamberg Am Ende wob der Meisterorganist Wolfgang Seifen „Der Mond ist aufgegangen“ in seine entzückende Spielzeugmarsch-Zugabe ein, um zu signalisieren, dass es nun auch für seine größten Fans Zeit wäre, den Konzertsaal der Symphoniker zu verlassen.
Der Bamberger Sonntagabend war damit wohl nicht gemeint, so wie er den Ort zuvor in einer fünfsätzigen Sinfonie mit kühnen Strichen gemalt hatte. Expressionistische Filmmusik konnte einem dazu einfallen, einige unheimlich romantische Radierungen von Alexej Borutscheff und immer wieder die Wilde Jagd, der voran ein Bamberger Reiter mit solch schwerem Galopp dahinzustürmen schien, dass man seinem Pferd glühende Augen und Funkenflug unter den Hufen zutraute.
Wohlig abenteuerlich war manchem Besucher vielleicht schon vorm Konzert zumute, denn Seifen kündigte für das ganze gut eineinhalbstündige Programm Improvisation an. Kein Hexenwerk, betonte der Organist im bestens einführenden Gespräch. Als Improvisationslehrer habe er das schon an vielen Schülern bewiesen. Erstaunlich bleibt die Sache doch, denn er spielt in vielen Zungen, um seine Gleichsetzung von Orgelstilen und Fremdsprachen aufzunehmen. Da parlierte er zu Beginn ein dreisätziges Barock-Concerto, das heitere Freiheit ausstrahlte, so streng es den Gesetzen damaliger Zeit folgte. Ganz so streng meinte es Seifen freilich nicht, wagte hie und da etwas Keckes, spielte eine Pastorale weidlich aus mit schalmeiigen Klängen und freudiger Bewegtheit.
Kaum eine Pause gönnte er sich und den Zuhörern, ehe er sich eine „Symphonische Phantasie und Fuge (im deutsch-romantischen Stil)“ aus den Fingern sog, die „In Memoriam Max Reger“ als Untertitel trug. Der Geist des Meisters tanzte enthusiastisch mit, während Seifen Phantastisches im Doppelsinn zelebrierte. Zwar klagte ein Mann in der Pause: „Das im Regerstil war mir zu massiv!“ Doch sein Freund gab forsch zurück: „Ha, ist ja klar, hat alles rausgeholt, was drinsteckt, in der Maschine!“ Wie wahr! Seifen wusste genau, was drinsteckte, was herauszuholen war aus der großartigen Orgel. Mit Schöpfergewalt formte er spätromantische Tonlandschaften – gebirgsschroff und von wüster Weite, durch die ein überraschend gewaltiger BACH Wellen schlug. Das Extreme der Klanggewitterwolken schlug in Bann, ein suchendes Wüten schien überhandnehmen zu wollen, doch Seifen beherrschte in genialer Souveränität seine Reger-nahe, doch stets sehr originäre Welt, wie überhaupt die Stücke einander in Gesten, Akkorden und Motiven verbunden waren, elegant und klar zugleich.
Plumpe Deutlichkeit scheute Seifen genauso wie falsche Scheu. Warum den Hiesigen mit „Bamberger Sinfonie für große Orgel“ eine schmeichelnde Tonmalerei schenken, wenn er die Stadt doch anders empfunden hat? Das Allegro maestoso, das er dem Kaiserdom widmete, war die Wilde Jagd, doch auch das Andante cantabile Klein-Venedigs zeigte erstaunlich gefährliches Wasserwirbeln, das Scherzo für die Regnitz bot kein Tändeln, sondern einen Sprühregen aus Farben und Gefühlen, der dem sonst hingerissen still lauschenden Publikum begeistertes Raunen entlockte. Das Adagio espressivo zeichnete einen Jakobsberg mystischer Stimmung, in die Gespenstisches hineinwaberte, und im Finale „Fränkisches Rom“ wollte Wolfgang Seifen, wie es schien, Monumentales noch übertreffen, wählte Registerarmeen aus und drängende Tempi, ließ saalerzitternde Akkordschläge erklingen, als ob Giganten megalithische Mauern zertrümmerten. Wie Ernst, Witz, Gewalt und Zartheit zusammengehören können, zeigte sein Schlussschlussschlussschluss, der neben zahllosen Steigerungen vor allem ein Immerwiederausweichen vor dem Endgültigen erkennen ließ, ein Augenzwinkern im Angesicht der Endlichkeit.
Rolf-Bernhard Essig (Zuerst veröffentlicht im 'Fränkischen Tag', 07.02.2017
Das muss man gesehen haben ... Die DVD ist über ORGANpromotion für nur 10 € + Porto erhältlich: