Gerds gallige Kolumne

Bayern 1 – „Die beste Musik für Bayern“
oder musikalischer Offenbarungseid?

Sehr geehrte Damen und Herren,
gerade war wieder mal der wunderschöne Song der Love Affair – „Everlasting love“ zu hören. Mitten im Lied wurde brutal abgewürgt für Werbung. Kann man das im EDV-Zeitalter nicht so timen, dass ein Song zu Ende gespielt werden kann? Dann lieber einen weniger vorsehen. Das ist leider kein Einzelfall mit dem vorzeitigen Ausblenden. Im übrigen wird die sehr limitierte Auswahl -- fast jeden Tag gleiche Songs - auch immer nerviger. Wenn Interpreten angesagt werden, wie z.B. Robbie Williams, weiß man i.d.R. welcher Song kommt, bei Paul McC. ist es ähnlich. ... Ich würde Ihnen gerne mal Vorschläge von Songs machen, die es verdienen würden, gesendet zu werden.  Beste Grüße, Gerd Müller, Musikjournalist

Diese Zeilen mailte ich am 23.11.2018 an die korrekte Adresse des Senders, leider ohne Reaktion. In München scheint nur Lob erwünscht zu sein. So etwas konnte ich natürlich nicht unwidersprochen stehen lassen. Idealer Weise fiel es mitten in meinen schon länger geplanten „Langzeit-Test“.

Offenbar laufen die Musikredakteur/innen nicht nur bei diesem öffentlich-rechtlichen Sender sowohl mit kompletten Scheuklappen als auch völlig abgedichteten Ohrstöpseln herum. Warum? Weil man 1. die Beschwerde eines Hörers einfach negiert. Und 2. man offenbar gar nicht mehr hinhört, was dank der „Heavy Rotation“ akustisch das Land überfällt. Kein Wunder, denn die ohrenbetäubten Hardcore-Fans goutieren das ausdrücklich mit Lobeshymnen, die oft live gesendet werden.

„Die beste Musik für Bayern“ oder „Mehr Abwechslung“ heißen zwei Slogans. An dieser hochstaplerischen Behauptung muss man sich messen lassen. Was „mehr Abwechslung“ betrifft, stellt dies ein grundsätzliches Missverständnis dar. Braucht man überhaupt noch Musik-Redakteure, wenn ein Zufallsgenerator aus dem Restewühltisch „auswählt“ und ab und zu die Rotation *) ergänzt wird? Dazu kommt, dass wunderschöne Songs relativ oft vor dem Ende abgewürgt werden, um noch schnell Werbung oder Programmhinweise durchzuboxen. Beim Elvis-Song „Suspicious Minds“ gibt es bekanntlich eine Ausblende und zusätzlich die kultige letzte Ein- und Ausblende. Diesen Schluss verschweigt man dem (unwissenden?) Hörer regelmäßig. Oder bei „I’m not in love“ von 10CC. Klar, die lästige Ausblende. An diesen beiden Beispielen zeigt sich, was ein Musikkastrateur alles leisten muss: Warten auf Godot, nein natürlich auf die lästige Ausblende. Aber sicher könnte alles vorab wunschgemäß so programmiert werden, dass es passt, oder? Aber nein: Schwupp und schon ist der vorzeitige akustische Exitus da.

Ein Lob muss ich dennoch aussprechen: Den guten Service, manchmal einige Songs kurz vorher mit Namensnennung anzuspielen. Dann weiß der geneigte Eintopfhörer, was er tunlichst vermeiden sollte, um sich irgendwann mal den Weg zum Musikpsychologen zu ersparen. Es gibt ein weiteres grundsätzliches „Krankheitsbild“. Bei manchen Interpreten, wie z.B. Meat Loaf, weiß man genau, welcher Song nun folgt. Der unkreative Sänger hat offenbar in seinem ganzen musikalischen Leben nur diesen einen Song verfasst und auf einer Vielzahl von CDs ausgebreitet. So ergeht es vielen Interpreten, die mit diesem traurigen One-Hit- oder zuweilen Two-Hit-Wonder-Los leben müssen. Eingestehen muss ich allerdings, dass man recht aktuelle Wortbeiträge bringt, die wenigstens geistige Abwechslung generieren. Auch Preisrätsel stehen auf dem Programm, die die grauen Zellen vor dem endgültigen Untergang bewahren. Ein letztes Lob: Am Abend mutieren die musikalischen Ergüsse sogar, man glaubt es fast nicht, manchmal zu seltenen kaum gespielten Hör-Erlebnissen. Doch da liegen wohl selbst die hartgesottensten B1-Betäubten abgeschlafft mit Alpträumen im Bett.

Eine wichtige Frage drängt sich mir auf. Es gibt doch sicher ein elektronisches Zählwerk, das verdienten Liedern, sagen wir ab 10.000 oder 100.000 Einsätzen innerhalb eines Jahres, den verdienten akustischen Garaus gönnt. Ist das nicht DER Vorschlag? Dann könnten Songs zum Zuge kommen, auf die man bisher vergeblich wartete – die den Mainstream-Süchtigen sonst wohl lebenslang verborgen bleiben.

Sie werden jetzt fragen, warum und wie lange ich mich diesem musikalischen Terror hingegeben hatte? Ich gestehe es ungern: Ein Vierteljahr. Es sollte ja eine Langzeitstudie werden. Ich wollte fühlen, wie es normalen Menschen ergehen könnte, die mit dieser Dauerberieselung zu Hause, im Büro oder wo auch immer zwangsweise zuhören müssen, ohne Alexa in Reichweite, die auf Zuruf das grausige Geschehen beenden würde. Mein Resümee? Endlich wieder meine CD-Sammlung anzapfen, Streams meiner Lieblinge hören – ohne Hineingackernlachen der Ulla Müllers & Co oder brutales Ausblenden. Und so den täglich grüßenden Murmeltieren aus dem Weg zu gehen. Das ist Weihnachten und Ostern in einem.

Zum Glück gibt es bei fast 70 (!!!) gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Radiosendern auch anspruchsvolle Spartenprogramme, von Internet-Radios abgesehen. Immerhin ein Trost, wenn man es schafft, von der Mainstream-Sucht wegzukommen, sonst droht hoher Abstumpfungsfaktor. Übrigens und das ist die absolute Wahrheit: Meine Alexa weigert sich seit Neuestem beharrlich, auf Bayern 1 umschalten. „Soll ich den Sender Bayern 1 spielen?“. Es hilft nichts, sie bietet dann einen Stream aus den 60-ern an ...
Bevor ich es vergesse:
Ich muss mich allerdings entschuldigen, weil der Slogan „Mehr Abwechslung“ tatsächlich stimmt, denn noch nie ist es vorgekommen, dass die gleiche Reihenfolge gespielt wurde. Heavy Rotation sei Dank!
(Gerd Müller - April 2019)

*) Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Rotation_(Rundfunk)